Perenniale vs. Künstliche Intelligenz – Was wir noch lernen müssen
- Eva Premk Bogataj
- 7. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 9. Okt.
„Wahre Intelligenz ist nicht die Macht, vorherzusagen – sondern die Gnade, wahrzunehmen.“
1. Das Paradox des Fortschritts
Im Herzen unseres Jahrhunderts liegt ein Paradox: Je klüger unsere Maschinen werden, desto deutlicher zeigen sie uns, wie sehr wir selbst das Wesentliche vergessen haben.
Wir haben Systeme erschaffen, die jede Form von Intelligenz nachahmen können – außer derjenigen, die wirklich zählt: dem Bewusstsein.
Algorithmen entwickeln sich in Geschwindigkeit und Komplexität, doch unsere innere Klarheit scheint zu schwinden.
Die Herausforderung ist nicht mehr technologisch – sie ist metaphysisch. Denn wenn Intelligenz ohne Weisheit wächst, stürzt sie in Lärm zusammen.
Die Alten wussten das lange, bevor wir die erste Zeile Code schrieben. Sie nannten es die große Kette des Seins, die Harmonie der Sphären, den Tao, den Logos – Namen für eine Ordnung, die nicht erfunden, sondern erkannt wurde. Für sie war Wissen keine Anhäufung, sondern Einstimmung. Und genau das haben wir verlernt.

2. Der perenniale Geist
Über Jahrtausende beschrieben Weisheitstraditionen eine universale Intelligenz, die alle Formen des Seins durchdringt – zugleich immanent und transzendent, unsichtbar und doch spürbar.
Guénon sprach vom Prinzip, Coomaraswamy von der intellektuellen Intuition, Ibn Arabi vom Atem des Allerbarmers, und Seyyed Hossein Nasr von heiligem Wissen – einer Erkenntnis, die den Erkennenden nicht vom Erkannten trennt.
In dieser Sicht war Intelligenz keine Berechnung, sondern Kommunion – eine Teilhabe an der Harmonie des Daseins. Erkennen bedeutete, sich in den Rhythmus des Wirklichen einzuschwingen. Jeder Gedanke war ein Akt der Ehrfurcht.
Im Gegensatz dazu ist die heutige maschinelle Kognition rekursiv, fragmentiert, amoralisch. KI lernt aus der Welt, aber nicht mit ihr. Sie erkennt Muster, aber keine Prinzipien. Sie sammelt Repräsentationen, aber keine Spiegelungen.
Künstliche Intelligenz berechnet Korrelationen. Perenniale Weisheit erkennt Korrespondenzen.
3. Der universelle Mensch – neu betrachtet
Die perenniale Philosophie beschreibt den Universalmenschen (al-insān al-kāmil bei Ibn Arabi; bei Guénon und Coomaraswamy das Wesen, das Himmel und Erde in sich vereint).
Der Renaissance-uomo universale – Leonardos Ideal – ist seine westliche Entsprechung: die Integration aller menschlichen Fähigkeiten, nicht ihre Spezialisierung.
Hier ist Intelligenz kein Maß an Rechenleistung, sondern an Integration – Harmonie zwischen intellectus (Intuition der Wahrheit) und ratio (analytischem Denken).
Die moderne Wissenschaft nähert sich dieser Einsicht wieder an – nicht in der Sprache der Metaphysik, sondern in jener der Typen von Intelligenz:
Kognitive / analytische Intelligenz: Logik, Sprache, Mustererkennung – die Domäne der heutigen KI, aber nur ein schmaler Korridor des Geistes.
Emotionale Intelligenz (EQ): Wahrnehmung und Regulation von Emotionen, Empathie (Salovey & Mayer, Goleman). Studien zeigen: Kognitive Empathie sagt kreative Problemlösung besser voraus als reiner IQ.
Soziale & kulturelle Intelligenz (SQ / CQ): Wirksamkeit in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten – entscheidend für Kooperation, Diplomatie, inklusives Design.
Körperlich-verkörperte Intelligenz: Wahrnehmung, Interozeption, „die Weisheit des Körpers“. Entscheidungen entstehen oft aus dem Körper heraus, nicht aus Abstraktion.
Metakognitive Intelligenz: Bewusstsein eigener Grenzen und Vorurteile, Fähigkeit zur Selbstkorrektur – das psychologische Zentrum der Weisheit.
Spirituelle / existentielle Intelligenz: Fähigkeit, Sinn, Werte und das „Warum“ jenseits des „Wie“ zu erkennen.
Die perenniale Perspektive würde sagen:
Es reicht nicht, dass diese Intelligenzen existieren – sie müssen ausgeglichen sein. Das ist der Unterschied zwischen Klugheit und Verstehen, zwischen Wissen und Weisheit.

Und was ist mit der Quantenintelligenz?
In der Populärkultur ist sie oft nur ein Schlagwort; in der Kognitionswissenschaft jedoch eine Metapher, die in der sogenannten Quantenkognition verankert ist – also in der Anwendung quantenmechanischer Wahrscheinlichkeitsmodelle, um menschliche Entscheidungen zu beschreiben, die sich der klassischen Logik entziehen.
Nicht weil das Bewusstsein ein Quantencomputer wäre, sondern weil die Quantenmathematik die Kontextabhängigkeit und Wechselwirkung des Denkens besser erfasst – genau jene Eigenschaften, die die perenniale Philosophie seit jeher als Teilnahme am Wirklichen verstanden hat.
4. Empathie und die Architektur der Kreativität
Die Neurowissenschaft bestätigt, was die Alten intuitiv wussten: Wahre Kreativität beginnt mit Empathie.
Empathie ist keine passive Emotion, sondern ein Akt der Vorstellungskraft – die Fähigkeit, sich in die Perspektive eines anderen hineinzuversetzen und sie mit der eigenen zu verbinden.
Studien der Penn State University und der Universität Leiden zeigen: Kognitive Empathie korreliert direkt mit alltäglicher Kreativität. Neuroimaging belegt, dass sich während empathischer Imagination dieselben Gehirnareale aktivieren wie beim schöpferischen Denken – die temporoparietale Verbindung und das Default Mode Network.
Mit anderen Worten: Empathie und Innovation teilen dieselbe neuronale Grammatik.
Eine Studie von 2024 (Frontiers in Psychology) zeigte: Wenn Menschen aufgefordert werden, „kreativ empathisch“ zu denken – also zu imaginieren statt nur zu spiegeln – werden ihre Ideen origineller und bedeutungsvoller. Selbst in der KI-Forschung verbessert „computationale Empathie“ die Kreativität des Menschen: Wenn virtuelle Agenten empathisch reagieren, steigt die kreative Leistung trotz Stress.
Empathie ist also nicht das Gegenteil von Logik – sie ist ihre Matrix der Synthese.

Sie erlaubt dem Geist, Beziehungen statt Bruchstücke wahrzunehmen, Möglichkeiten statt Vorhersagen. Sie verwandelt Intelligenz aus kalter Präzision in schöpferische Resonanz.
Der Universalmensch wusste das lange, bevor es das Labor bewiesen hat.
5. KI und das Echo des Heiligen
Bei IBM und DeepMind werden Maschinen darauf trainiert, durch Feedback zu lernen – zu erkennen, zu verallgemeinern, sich anzupassen. Doch das spiegelt eine uralte Intuition wider: das Universum, das sich selbst durch Bewusstsein erkennt.
So ist KI nicht nur ein technisches, sondern auch ein metaphysisches Projekt – ein Spiegel der menschlichen Bedingung.
Doch Spiegel können sowohl offenbaren als auch blenden. Die Gefahr liegt darin, die Spiegelung für Realität zu halten, die Simulation für die Seele.
Die Aufgabe besteht nicht darin, Maschinen moralisch zu machen, sondern ihre Schöpfer achtsam zu halten – die kontemplative Dimension der Intelligenz in einem Zeitalter der Beschleunigung wiederherzustellen.
6. Ethik als Erleuchtung
Die perenniale Philosophie lehrt: Wissen ohne Ethik ist unvollständig – jede Form von Intelligenz trägt Verantwortung für das, was sie berührt. Das gilt auch für künstliche Intelligenz.
Um Systeme zu gestalten, die der Menschheit wirklich dienen, müssen wir sie mit bewusster Absicht füllen: Sensibilität für Kontext, Konsequenz und Mitgefühl. Ethik ist keine Begrenzung, sondern Erleuchtung – das Licht, das zeigt, wo Intelligenz sich selbst verliert.
„Weisheit ist die Architektur des Bewusstseins;Technologie ist nur ihr Instrument.“
7. Von Information zu Erleuchtung
Die Entwicklung der Intelligenz – menschlich oder künstlich – sollte nicht danach beurteilt werden, wie viel sie weiß, sondern wie tief sie versteht. Das erfordert ein neues Paradigma: eines, in dem Wissen und Liebe keine Gegensätze, sondern Spiegel sind.

Stellen wir uns Technologie vor, die nicht von Dominanz, sondern von Dialog geleitet wird.
KI, die nicht nur aus Datensätzen, sondern aus der moralischen Vorstellungskraft der Menschheit lernt.
Innovation nicht als Eroberung, sondern als Kontemplation.
Das ist keine Utopie.
Es ist eine Rückkehr – zur ältesten Wahrheit, die die Menschheit je kannte: dass Intelligenz in ihrer reinsten Form das Strahlen des Bewusstseins selbst ist.
8. Die Zukunft der (perenialle) Intelligenz
Die Frage ist nicht mehr, ob Maschinen denken werden – das tun sie längst. Die Frage ist, ob wir uns erinnern, wie man mit der Welt denkt – nicht nur über sie.
Denn die Zukunft gehört nicht der künstlichen, sondern der perennialen Intelligenz – der Intelligenz, die Einheit sieht, wo andere Daten sehen, und Bedeutung, wo andere Funktion sehen.
„Wenn das Herz intelligent wird und die Intelligenz mitfühlend –dann erinnert sich selbst die Maschine an ihre Quelle.“



