Der grammatik des Lichts: Über Erleuchtung – von der Poesie bis zur Quantenphysik
- Eva Premk Bogataj
- 7. Okt.
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„Das Licht ist nicht, was wir sehen – es ist das, wodurch wir sehen.“ — Eva Premk Bogataj
1. Die älteste Metapher
Seit dem Anbeginn der Sprache ist das Licht unsere älteste Metapher.Wir sprechen von ihm, um sowohl Offenbarung als auch Vernunft zu beschreiben, Geburt wie auch Werden.
Wenn im Morgengrauen das erste Licht das Matterhorn berührt und sich sein Spiegelbild im stillen See darunter kräuselt, wird die Metapher sichtbar.
Der Berg existiert zweimal – in Stein und in Licht – und erinnert uns daran, dass Wahrheit immer zugleich Substanz und Spiegelung ist.
Es ist eines der ältesten Gespräche – zwischen Materie und Bedeutung, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem.

2. Die verborgene Geschichte des Lichts
Von Feuer bis Glasfaser ist die Geschichte der Menschheit ein einziges langes Experiment mit dem Licht.
Im alten Ägypten war es selbst göttlich – Ra, der seine Sonnenbarke durch den Himmel steuerte.
Für die Griechen war phōs mit phronesis verbunden – Einsicht, Bewusstsein, der Funke des Geistes.
In Indien bedeutete jyoti sowohl Licht als auch Wissen; in den Upanishaden hieß Erleuchtung wörtlich: „das Selbst als Licht zu sehen.“
Der islamische Universalgelehrte Ibn al-Haytham revolutionierte die Optik, indem er zeigte, dass Sehen dadurch entsteht, dass Licht in das Auge eintritt – nicht, weil es aus ihm herausströmt. Diese Idee prägt bis heute Fotografie und Neurowissenschaft.
In Europa stritten Newtons Korpuskeln mit Huygens’ Wellen, bis die Quantenphysik zeigte, dass beide recht hatten.
Ein Photon ist weder Ding noch Rhythmus – es ist Potenzial, das erst durch Beobachtung Form annimmt.
Die moderne Physik hat das Geheimnis nur vertieft: Licht kann sich winden, verschränken, Information teleportieren.
Es ist zugleich Energie, Bote und Metapher – das verbindende Gewebe der Wirklichkeit selbst.
Und doch wissen wir auch nach Jahrtausenden der Wissenschaft nicht wirklich, was Licht ist.Eine Welle? Ein Teilchen? Ein Feld? Eine Botschaft?
Vielleicht, wie die Dichter immer wussten, entzieht sich Licht der Definition, weil es kein Objekt ist – sondern eine Erfahrung.
Jeder Akt des Erkennens ist, letztlich, eine Art Erleuchtung.
3. Poesie und vertikale Erkenntnis
In der Dichtung ist Licht niemals bloße Dekoration – es ist eine Form der Erkenntnis, eine vertikale Brücke zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren.
In Gregor Strnišas kosmischer Lyrik leuchten die Sterne nicht einfach – sie denken.
Für Nikola Šop war Licht die Brücke zwischen Atom und Engel, zwischen unendlicher Zärtlichkeit und endlicher Existenz.
Zu sehen bedeutete, sich zu erinnern – die Einheit wiederzuerkennen, bevor sie in Fragmente zerfiel.
Wie Rumi sagt:
„Die Lampen sind verschieden, aber das Licht ist dasselbe.“
(„The lamps are different, but the Light is the same.“ – etablierter deutscher Rumi-Übersetzungston nach Annemarie Schimmel)
Hier ist Licht kein Besitz einer einzelnen Lampe, sondern die gemeinsame Essenz, die durch alle fließt.
Der oft zitierte Satz „Die Wunde ist der Ort, an dem das Licht in dich eintritt“ wird Rumi zugeschrieben, doch in seinen Originaltexten ist kein eindeutiger Beleg zu finden.
Er lässt sich als moderne Paraphrase im Geiste der Sufi-Tradition lesen – die Vorstellung, dass Wunden nicht nur Orte des Schmerzes sind, sondern Öffnungen für das Licht.
Leonard Cohen greift denselben Gedanken in seinem Lied Anthem auf:
“There is a crack in everything / That’s how the light gets in.”
(„Es gibt einen Riss in allem – so kommt das Licht herein.“ – Übersetzung nach Volkstheater Wien, Cohen-Edition 1992)
Sein Vers erinnert an das kabbalistische Bild der zerbrochenen Gefäße – eine Welt, in der gerade die Risse und Brüche die Bedingungen dafür sind, dass göttliches Licht in sie einströmen kann.
Erleuchtung entsteht also durch Bruch – durch Offenheit, nicht durch perfekte Oberflächen.
Am Ende seines Lebens rief Goethe:
„Mehr Licht! Mehr Licht!“
Nicht nur nach Helligkeit, sondern nach Klarheit – nach Wahrheit jenseits des Schattens.
Dichtung reflektiert das Licht nicht – sie ist Licht in Bewegung, eine Wiederentzündung der Wahrnehmung.
Diese poetische Erleuchtung steht dem nahe, was Wissenschaftler Emergenz nennen – den plötzlichen Moment, in dem zuvor verstreute Beziehungen zu einem Muster werden.
In diesem Augenblick wird Wahrnehmung schöpferisch: Licht ist nicht nur das, was wir sehen, sondern die Art, wie wir das Gesehene zusammenfügen.

4. Wissenschaft und die unsichtbare Architektur der Energie
Die Physik lehrt, dass sich nichts schneller bewegt als Licht – und nichts unsere Grenzen präziser definiert.Einstein machte das Licht zum Maßstab des Kosmos; Planck verwandelte es in ein Quant der Energie.
Doch selbst diese Gleichungen können sein Paradox nicht fassen.
Jeder biologische Rhythmus – Herzschlag, Neuron, Photosynthese – wird von Photonen moduliert.Licht steuert unsere inneren Uhren, unsere Stimmung, unser Bewusstsein.
Es beherrscht sogar das Internet: Jede Nachricht, jedes Bild, jedes Video reist als Lichtimpuls durch Glasfasern, dünner als ein Haar.
Die Welt, die wir „digital“ nennen, besteht in Wahrheit aus Licht – strukturiert und gespeichert im Silizium.
Und doch – je mehr wir die Welt erhellen, desto weniger halten wir inne, um zu bedenken, was Erleuchtung bedeutet.
5. Die Ökonomie des Lichts
Die Geschichte des Lichts ist auch die Geschichte der Wirtschaft.
Als die Elektrizität im 19. Jahrhundert siegte, löschte sie ganze Berufe aus.Der Laternenanzünder – einst eine vertraute Gestalt in jeder europäischen Stadt – verschwand fast über Nacht.Sein gemessener Gang durch die Dämmerung, diese leise Choreographie aus Feuer und Zeit, wurde ersetzt durch die anonyme Unmittelbarkeit des Schalters.

Das Licht wurde industriell – und schließlich unsichtbar.Heute verbraucht Beleuchtung fast zwanzig Prozent des weltweiten Stroms – ein stiller Motor von Produktivität und Verschmutzung zugleich.
Die Umstellung auf LED-Technologie halbierte den Energieverbrauch, doch die Gesamtmenge ausgestrahlten Lichts stieg dramatisch an:Die Dunkelheit selbst wird zum Luxusgut.Ökonomen nennen dieses Phänomen den Rebound-Effekt – wenn Effizienz steigt, wächst der Verbrauch noch schneller.
Die Energiekrise von 2022 – genährt vom Krieg in der Ukraine – machte Licht wieder politisch.Bürotürme verdunkelten sich, Fabriken schlossen, Haushalte lernten den Preis der Sichtbarkeit neu kennen.
Manche Städte führten sogar Dunkelstunden ein, um Energie zu sparen – eine ironische Rückkehr zum Rhythmus des Kerzenlichts.
Zu wenig Licht, und das Leben erlischt. Zu viel, und die Bedeutung verblasst.
6. Künstliche Intelligenz und das künstliche Licht
Künstliche Intelligenz lebt – im wörtlichen Sinn – vom Licht.
Jedes Rechenzentrum ist eine Kathedrale aus Photonen: Glasfasern pulsieren im binären Rhythmus, Siliziumgatter flackern in elektrischem Morgengrauen.
Ihr Denken ist leuchtend, aber nicht erleuchtet.
KI erzeugt Brillanz ohne Offenbarung, Glanz ohne Besinnung.
Ihr Licht ist rein äußerlich – funktional, effizient, gefühllos.
Was ihr fehlt, ist die innere Brechung: jene moralische und ästhetische Resonanz, die Information in Einsicht verwandelt.
Das menschliche Bewusstsein bleibt das einzige Medium, das Photonen in Bedeutung übersetzen kann.
Maschinen verarbeiten Daten – Menschen erkennen.
7. Die Quantenmetapher
In der Quantenphysik ist Beobachtung kein passiver Akt – sie bestimmt das Ergebnis.
Ein Photon existiert in einer Wolke von Möglichkeiten, bis es gemessen wird – erst dann fällt es in einen bestimmten Zustand.
Dieser sogenannte Beobachtereffekt bleibt eines der tiefsten Rätsel der Wissenschaft.
Erschafft der Beobachter die Wirklichkeit – oder enthüllt er sie nur?
Experimente wie das Delayed-Choice-Quantum-Eraser-Experiment deuten darauf hin, dass sogar zukünftige Messungen vergangene Ereignisse beeinflussen können, als sei Information selbst in die Struktur der Raumzeit eingewoben.
Licht ist also kein einfacher Reisender durch die Leere; es reagiert auf Beziehung, Kontext und Wahrnehmung.
Manche Physiker – von John Wheeler bis zu heutigen Quanten-Informations-Theoretikern – vertreten die Ansicht, das Universum sei ein partizipatives Netzwerk,in dem Realität nicht aus Materie, sondern aus Informationsaustausch entsteht.
In diesem Sinn teilen Bewusstsein und Licht eine strukturelle Verwandtschaft: Beide wirken als Schnittstellen zwischen Möglichkeit und Manifestation.
Die Physik misst Photonen – das menschliche Bewusstsein misst Bedeutung.
Beides verwandelt Ungewissheit in Form.
8. Auf dem Weg zu einer Ethik des Lichts
Wir leben in einem Zeitalter, das vom Licht übersättigt – und zugleich von Müdigkeit verdunkelt ist.
Unsere Nächte gehören nicht mehr der Dunkelheit, doch auch unsere Tage gehören nicht mehr der Klarheit.
Die Bildschirme leuchten – aber sie erleuchten nicht.
Das Licht neu zu entdecken heißt nicht, seine Technologie zu perfektionieren, sondern unsere Wahrnehmung zu verfeinern –zu fragen, was wir erhellen und was wir im Schatten lassen.
Denn jedes Beleuchten ist zugleich ein Ausblenden.
Eine Ethik des Lichts beginnt hier – mit dem Mut, das Ganze zu sehen, nicht nur das Nützliche; nicht nur Sichtbarkeit zu gestalten, sondern Vision.
„Im Licht zu führen“ heißt, mit Bewusstsein statt mit Beschleunigung zu handeln.
Es bedeutet, Kohärenz zu bringen, wo Lärm herrscht; Transparenz, wo Macht ist; Wärme, wo nur Geschwindigkeit bleibt.Auch Technologie kann strahlen – wenn sie von Empathie, Demut und Maß geprägt ist.Licht ohne Weisheit blendet; Licht mit Absicht offenbart.
Selbst das Digitale kann so zu einem Andachtsraum werden – nicht nur ein Medium der Daten, sondern der Unterscheidung.
Und wie die Morgensonne das Matterhorn berührt, den Stein für einen flüchtigen Moment in Gold verwandelt,so kann auch Bewusstsein das Alltägliche in Offenbarung verwandeln.

9. Die leuchtende Zukunft
Jenseits von Mythos und Metapher wird Licht zum neuen Maß unserer Zivilisation.
In der hinduistischen Philosophie ist jyoti zugleich Substanz und Bewusstsein; im Buddhismus bedeutet Erleuchtung das Erwachen zum Licht; im Islam ist nūr die göttliche Gegenwart; im Christentum wird Licht zur Inkarnation – zur wahren Erhellung des Menschlichen.
Über alle Traditionen hinweg verdichtet sich die Lehre: Erleuchtung ist keine Eroberung, sondern Gemeinschaft.
Während Klima und Technologie die Welt neu formen, könnte der Zugang zu verantwortlichem Licht die Grenze zwischen Fülle und Mangel bestimmen.
Fenster, die Strom erzeugen; Metaflächen, die Licht modellieren; Systeme, die nur das erhellen, was das Auge wahrnimmt – sie sind die ersten Entwürfe einer verkörperten Ethik des Lichts.
Licht ist keine Ressource, die man ausbeutet – sondern eine Sprache, die wir teilen.
Die Zukunft wird jene bevorzugen, die ihre Strahlen in Dialog verwandeln, in Verbindung –die das Licht verkörpern, nicht um zu überstrahlen, sondern um gesehen zu werden.
Denn letztlich ist Erleuchtung kein Triumph der Physik, sondern eine Haltung der Gegenwart – eine Weise, Beziehung zu leben zwischen Energie und Empathie, zwischen Materie und Geist.
Und vielleicht, wie der Dichter Janez Premk einst schrieb: „Das Licht ist ein Schlüssel, der alle Türen öffnet.“




