Mehrsprachige Köpfe: Wie Sprache Denken, Empathie und Innovation formt
- Eva Premk Bogataj
- 16. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
„Eine andere Sprache zu besitzen, heißt, eine zweite Seele zu besitzen.“— Karl der Große
Das Haus der vielen Sprachen
Ich bin in einer kleinen Wohnung aufgewachsen – nur 56 Quadratmeter – aber mit mehr als 5.000 Büchern.Sie standen vom Boden bis zur Decke, in allen möglichen Sprachen: Slowenisch, Deutsch, Englisch, Hebräisch, Französisch, Italienisch – sogar Chinesisch.
An unserem Küchentisch wechselten die Gespräche mühelos zwischen den Sprachen. Meine Eltern waren beide Polyglotten – mein Vater, ein wahrer Polymath, verfolgte neue Ideen in ihren Originalausgaben, lange bevor sie ins Slowenische übersetzt wurden.
Mit sieben Jahren lernte ich Hebräisch und Englisch in einem mehrsprachigen Umfeld. Mit zwölf kam Französisch hinzu, mit dreizehn Italienisch – alles auf natürliche Weise, nicht im Klassenzimmer. Für mich waren Sprachen nie ein Schulfach. Sie waren Wohnräume des Geistes – jeder mit einem anderen Licht, Rhythmus und emotionalen Klima.
Damals wusste ich nicht, dass mein Gehirn lernte, in mehreren Dimensionen zu denken.
Das mehrsprachige Gehirn: Eine Symphonie der Verbindungen
Die Neurowissenschaft bestätigt heute, was Mehrsprachige schon immer spüren: Jede Sprache schafft neue neuronale Verbindungen und verändert, wie wir wahrnehmen, erinnern und mitfühlen.
fMRT-Studien (Bialystok, 2017; Li & Grant, 2020) zeigen, dass zweisprachige und mehrsprachige Menschen breitere Netzwerke im präfrontalen Kortex und im anterioren cingulären Kortex aktivieren – dieselben Regionen, die für exekutive Kontrolle, kognitive Flexibilität und emotionale Regulation verantwortlich sind.
Sprachenlernen stärkt buchstäblich die Fähigkeit des Gehirns, Perspektiven zu wechseln. Der Wechsel zwischen Sprachsystemen trainiert den Geist, dieselbe Welt anders zu sehen.
Wenn man von der slowenischen Metapher zur französischen Präzision wechselt, von englischem Pragmatismus zu hebräischer Symbolik, muss das Gehirn ständig Bedeutungen neu kartieren. Dieser dynamische, adaptive Prozess ist das Wesen der Neuroplastizität.

Sprache, Empathie und Innovation
Empathie beginnt mit Übersetzung.
Jedes Mal, wenn wir versuchen, die Worte, den Ton oder das Schweigen eines anderen zu verstehen, entschlüsseln wir eine Welt.
Studien aus der Kognitionspsychologie (Pavlenko, 2021; Dewaele, 2019) zeigen, dass Mehrsprachige eine höhere Sensibilität für emotionale Nuancen besitzen – sie „lesen zwischen“ nicht nur Sätzen, sondern auch Kulturen. Diese Flexibilität befeuert Innovation.
Forschung der Harvard Business Review (2023) belegt, dass mehrsprachige Teams komplexe Probleme schneller lösen und kreativere Ideen entwickeln, weil sprachliche Vielfalt das Denken erweitert.
Das mehrsprachige Gehirn ist nicht geteilt – es ist erweitert. Es lernt, Mehrdeutigkeit zu tolerieren, entfernte Ideen zu verbinden und Paradoxien zu navigieren.
Das ist nicht nur sprachliche Intelligenz. Das ist menschliche Intelligenz.
Jenseits der Worte: Was Sprache über das Bewusstsein lehrt
Sprache ist mehr als ein Werkzeug – sie ist ein Spiegel des Bewusstseins.
Wenn wir eine andere Sprache sprechen, leihen wir uns eine andere Weltsicht.
Deutsch strukturiert Logik. Französisch verfeinert Präzision. Italienisch lehrt Rhythmus und Emotion. Hebräisch ruft Metapher und Ursprung hervor. Arabisch erweckt die heilige Geometrie der Sprache – wo Klang, Rhythmus und Bedeutung sich wie Kalligrafie verweben und uns daran erinnern, dass jedes Wort sowohl Schönheit als auch Gebet tragen kann. Slowenisch formt die Selbstreflexion – eine Sprache stiller Stärke, subtiler Ambition und innerer Ausdauer.
Jede verändert, wie wir fühlen – und wer wir werden.
Was digitales Lernen oft übersieht
Heute lernen Millionen Menschen Sprachen über Apps und Algorithmen.
Digitale Werkzeuge sind nützlich für Wiederholungen, können jedoch den emotionalen und sozialen Kontext, in dem Sprache wirklich lebt, nicht ersetzen.
Sprache ist verkörpert – sie wächst durch Gesten, Rhythmus, Lachen, Missverständnisse und deren Korrektur. Kein Bildschirm kann die Musik des Vertrauens lehren, die entsteht, wenn zwei Menschen versuchen, sich zu verstehen.
Die Zukunft des Sprachenlernens ist daher nicht rein technologisch – sie ist hybrid: menschliche Neugier, verstärkt durch kluge Werkzeuge, nicht ersetzt durch sie.
Das menschliche Gehirn ist zum Übersetzen geschaffen
Unser Geist ist ein natürlicher Übersetzer. Wir bewegen uns zwischen Gedanken und Worten, Empfindungen und Bedeutungen, Kulturen und Identitäten. Das macht Sprache sowohl zu einem kognitiven als auch zu einem moralischen Akt: Jede Übersetzung ist ein Akt der Empathie.
Eine andere Sprache zu sprechen bedeutet, in ein anderes Wertesystem einzutreten. Zuzuhören heißt, sich verändern zu lassen.
In einer Welt, in der künstliche Intelligenz schneller übersetzt, als wir denken können, bleiben mehrsprachige Menschen unersetzlich – weil sie verstehen, warum etwas bedeutet, was es bedeutet.
5 Dinge, die man sich merken sollte
Jede neue Sprache verändert das Gehirn. Mehrsprachigkeit erhöht die Neuroplastizität und kognitive Flexibilität.
Empathie ist eine sprachliche Fähigkeit. Andere zu verstehen beginnt damit, zu lernen, wie sie sprechen – und was ihr Schweigen bedeutet.
Innovation entsteht in der Übersetzung. Sprachliche Vielfalt schafft originellere Lösungen.
Digitale Werkzeuge können unterstützen, aber nicht ersetzen. Echte Kommunikation erfordert Präsenz, Emotion und Kultur.
Sprache ist eine Brücke, kein Hindernis. Jedes Wort ist ein Schritt auf einen anderen Menschen zu.
Literatur & Weiterführende Quellen
Bialystok, E. (2017). Bilingualism: The Good, the Bad, and the Indifferent. Annual Review of Linguistics.
Li, P. & Grant, A. (2020). Neural Plasticity in Multilingualism. Trends in Cognitive Sciences.
Pavlenko, A. (2021). The Bilingual Mind. Cambridge University Press.
Dewaele, J.-M. (2019). Emotions in Multiple Languages. Palgrave Macmillan.
Harvard Business Review (2023). How Multilingual Teams Drive Innovation.
Doidge, N. (2007). The Brain That Changes Itself. Viking Penguin.



