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Die Muttersprache und der Spiegel: Warum uns unsere erste Sprache nie verlässt

„Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ — Johann Wolfgang von Goethe
A woman weaving on a loom — a metaphor for language as structure and pattern. Each thread represents a word, each rhythm a thought.
Eine Frau, die an einem Webstuhl arbeitet – eine Metapher für Sprache als Struktur und Muster. Jeder Faden steht für ein Wort, jeder Rhythmus für einen Gedanken.

Die Sprache, in der wir denken

Bevor wir sprechen lernen, spüren wir bereits Rhythmus, Ton und Klang.

Die erste Stimme, die wir hören – meist die der Mutter – ist der Beginn sowohl von Erinnerung als auch von Bedeutung.Unsere Muttersprache ist mehr als ein Wortschatz; sie ist die Struktur, in der wir denken, fühlen und die Welt begreifen.

Jede weitere Sprache, die wir lernen, baut auf der unsichtbaren Architektur der ersten auf.

Sie formt die Kategorien, mit denen wir Zeit, Emotion und Moral verstehen.Wie kognitive Linguisten wie Steven Pinker und Lera Boroditsky zeigen, beschreibt Sprache nicht nur das Denken – sie erschafft es.


Grammatik als Spiegel des Geistes

Ich sage oft: Solange man die Grammatik der eigenen Sprache nicht wirklich versteht, wird man in jeder anderen dieselben Fehler machen.

Grammatik ist kein Schulfach – sie ist das Nervensystem der Bedeutung, das Gerüst, das Gedanken zusammenhält.

Wenn wir sie in unserer Muttersprache nicht begreifen, tragen wir diese Unsicherheit in jede neue Sprachstruktur hinein. Unsere Fehler wiederholen sich, weil sie nicht grammatikalisch, sondern kognitiv sind. Wir denken in Mustern, die wir noch nicht gemeistert haben.

Deshalb beginnt Lernen paradoxerweise mit einer Rückkehr – zur eigenen Sprache, zur inneren Syntax.


Emotionale Erinnerung: Warum sich die erste Sprache sicher anfühlt

Die Neurowissenschaft bestätigt, was Dichter schon immer wussten – die Muttersprache ist nicht nur im Sprachzentrum des Gehirns gespeichert, sondern auch im System des emotionalen Gedächtnisses.

Die Amygdala und der Hippocampus speichern den emotionalen Ton von Wörtern. Wenn wir ein Wiegenlied, eine Ermahnung oder einen Kindheitswitz in unserer ersten Sprache hören, reaktivieren sich neuronale Muster von Sicherheit und Geborgenheit.

Deshalb beten, fluchen oder gestehen selbst fließend Zweisprachige oft in ihrer Muttersprache – sie trägt emotionale Schwerkraft.

Unsere erste Sprache ist nicht die, die wir am besten sprechen – sondern die, die wir am tiefsten fühlen.


Zweisprachigkeit und das elastische Selbst

Das Erlernen anderer Sprachen erweitert den Geist – aber nur, wenn das Fundament stark ist.

Zweisprachigkeit fördert die kognitive Flexibilität, doch die Stabilität des Selbst entsteht aus einem klaren sprachlichen Kern.

Forschungsergebnisse (Kroll & Bialystok, 2017) zeigen, dass ausgeglichene Zweisprachige – also jene, die ihre Muttersprache tief beherrschen – eine stärkere exekutive Kontrolle und emotionale Regulation aufweisen als diejenigen, die sie teilweise verlieren.

Wir wachsen nicht, indem wir unsere Wurzeln aufgeben, sondern indem wir sie übersetzen.

Jede neue Sprache fügt eine Spiegelung hinzu – keinen Ersatz.

Warum Schulen es falsch lehren

In den meisten Bildungssystemen wird Grammatik als Strafe gelehrt – nicht als Präzision. Wir pauken Regeln, ohne die Schönheit der Struktur, die Eleganz der Syntax oder den Rhythmus der Logik zu sehen. Wir lernen, Fremdsprachen zu sprechen, bevor wir unsere eigene wirklich verstehen.

Deshalb fehlt vielen Mehrsprachigen das Selbstvertrauen: Ihnen fehlt nicht der Wortschatz – sondern die Klarheit der Struktur. Wenn wir der Grammatik unserer Muttersprache wieder Respekt zollen, werden wir nicht nationalistisch – wir werden präzise.


Die Muttersprache als lebenslanger Kompass

Die erste Sprache verlässt uns nie, weil sie nichts ist, das wir einmal gelernt haben – sie ist etwas, das wir sind.

Sie ist die Musik der Erinnerung, die Logik des Gefühls, der Spiegel, in dem unsere Identität Gestalt annimmt.

Sie tief zu kennen bedeutet nicht, begrenzt zu bleiben, sondern mit Bewusstsein zu reisen. Wer weiß, woher seine Worte kommen, weiß, wer er ist – und wie man anderen auf halbem Weg begegnet.


5 Dinge, die man sich merken sollte

  1. Grammatik ist Kognition. Wer die Struktur seiner eigenen Sprache kennt, denkt klarer in jeder anderen.

  2. Die erste Sprache lebt in der Emotion. Sie aktiviert die neuronalen Systeme von Sicherheit, Zugehörigkeit und Bindung.

  3. Lerne deine Wurzeln, bevor du Äste wächst. Wer seine Muttersprache beherrscht, baut Stabilität für mehrsprachiges Wachstum.

  4. Übersetzung beginnt im Inneren. Um andere Sprachen zu meistern, lerne zuerst, deiner eigenen zuzuhören.

  5. Flüssigkeit ohne Tiefe ist Lärm. Klarheit entsteht nicht durch viele Worte, sondern durch das Verständnis ihrer Grundlagen.


Literatur & Weiterführende Lektüre

  • Bialystok, E. & Kroll, J. (2017). Bilingualism as a Model for Multilingual Cognition. Annual Review of Linguistics.

  • Boroditsky, L. (2011). How Language Shapes Thought. Scientific American.

  • Pinker, S. (2007). The Stuff of Thought. Viking Penguin.

  • Pavlenko, A. (2021). The Bilingual Mind. Cambridge University Press.

  • Marian, V. & Shook, A. (2012). The Cognitive Benefits of Being Bilingual. Cerebrum Journal.

  • Damasio, A. (2018). The Strange Order of Things: Life, Feeling, and the Making of Cultures. Pantheon.

©2025 von Eva Premk Bogataj 

 

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