Warum das Gehirn auf eigene Weise entscheidet
- Eva Premk Bogataj
- 15. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Wie Neurotransmitter unsere Entscheidungen formen – und warum der Verstand manchmal gegen die Gefühle verliert
Wir glauben zu denken, doch meist erinnern – und fühlen – wir nur.
Jeden Tag treffen wir tausende Entscheidungen – die meisten davon unbewusst: wann wir uns im Bett umdrehen, wohin wir den Blick richten, wem wir vertrauen.
Unser rationaler Verstand möchte glauben, er habe die Kontrolle.
Doch die Wahrheit ist: Die Architektur des Entscheidens ist in ihrem Kern emotional.

Zwei Systeme, ein Geist
Die Neuropsychologie unterscheidet zwei parallele Systeme der Entscheidungsfindung:
Das limbische System – schnell, intuitiv, auf Belohnung und Überleben ausgerichtet.
Der präfrontale Kortex – langsamer, analytisch, planend.
Wenn beide in Konflikt geraten (etwa: „Ich will gesund essen“ vs. „Ich will jetzt Schokolade“), gewinnt meist das limbische System.Warum?Weil es mit stärkeren Neurotransmittern arbeitet – chemischen Botenstoffen, die Entscheidungen Energie und Gefühl verleihen.
Dopamin, Serotonin, Noradrenalin – das Orchester der Wahl
Dopamin ist der Treibstoff der Erwartung. Nicht die Belohnung selbst löst es aus, sondern das Versprechen darauf. Deshalb sind wir oft motivierter vor einem Erfolg als danach.
Serotonin reguliert Stimmung und Geduld – ohne es würden wir ständig Risiken eingehen.
Noradrenalin ist der Alarm: es steigert Aufmerksamkeit, Herzschlag und Bereitschaft zum Handeln.
Wenn diese Systeme zusammenwirken, entsteht ein feines Gleichgewicht zwischen Belohnung, Risiko und Warten.
In der Praxis ist Entscheiden eine Chemie zwischen Erwartung und Zurückhaltung.
Wenn Emotion die Vernunft überstimmt
In Stress- oder Ausnahmesituationen schaltet das Gehirn buchstäblich in den Überlebensmodus.
Der präfrontale Kortex – das Zentrum der Vernunft – tritt in den Hintergrund, während Amygdala und Hippocampus übernehmen.
Darum sagen oder tun wir manchmal etwas, das wir später bereuen – nicht weil wir irrational sind, sondern weil das Gehirn seine Energie von Reflexion auf Reaktion umlenkt.
Was das für Führung bedeutet
Führung besteht aus einer Reihe von Entscheidungen unter Druck, meist inmitten von Unsicherheit und Informationsflut.
Wer versteht, wie das Gehirn arbeitet, kann nicht nur andere führen – sondern auch das eigene Nervensystem.
Stressregulation: Studien (Davidson & Goleman, 2023) zeigen, dass kurze Atemübungen oder bewusstes Verlangsamen des Atems den Vagusnerv aktivieren, das limbische System beruhigen und den präfrontalen Kortex wieder „einschalten“.
Mikro-Entscheidungen: Das Gehirn lernt durch Wiederholung. Jede kleine bewusste Entscheidung – etwa eine Pause vor der Antwort – stärkt die neuronalen Bahnen der Selbstregulierung.
Metakognition: Die Fähigkeit, über das eigene Denken nachzudenken, aktiviert Netzwerke im vorderen Gyrus cinguli, der Konflikte erkennt und Fehler korrigiert – die biologische Basis reflektierter Führung.
Emotionale Sprachfähigkeit: Neurowissenschaften bestätigen, dass das Verstehen eigener und fremder Gefühle die Aktivität in der Insula, dem Zentrum der Empathie, erhöht. Empathische Führungskräfte treffen stabilere, vertrauenswürdigere Entscheidungen.
Das ist mehr als Selbstbeherrschung – es ist neurobiologische Disziplin: Wer sein Nervensystem beruhigen kann, führt klarer, mutiger und menschlicher.

Was die Wissenschaft in den letzten Jahren gezeigt hat
Entscheidungen sind verkörpert: EEG- und fMRI-Studien (Naqvi & Bechara, 2022) zeigen, dass Entscheidungssignale im Körper beginnen – Veränderungen von Herzschlag und Mikrobewegungen sagen eine Wahl voraus, bevor wir sie bewusst treffen.
Fehler sind kein Versagen, sondern Lernen: Das Gehirn schüttet Dopamin aus, sobald es eine Möglichkeit zur Verbesserung erkennt. Ein positiver Umgang mit Fehlern fördert also die neuronale Plastizität (Harvard 2021).
Erschöpfung verändert moralisches Urteilen: Mentale Müdigkeit senkt die Aktivität im medialen präfrontalen Kortex – dem Bereich, der mit Empathie verknüpft ist. Ausruhen ist daher kein Luxus, sondern Strategie.
Diese Erkenntnisse erinnern uns daran, dass unsere Entscheidungen verkörpert sind, unsere Fehler intelligent und unsere Klarheit von Ruhe abhängt – das Gehirn ist keine Maschine der Logik, sondern ein lebendiges System, das durch Fühlen, Irrtum und Erneuerung lernt.
Wie man sich vor Fehlentscheidungen schützt
Übe das langsame Denken (System 2): Bevor du reagierst, stelle dir drei Fragen – Was weiß ich? Was fühle ich? Was sehe ich voraus?
Erkenne den Dopamin-Bias: Begeisterung bedeutet nicht immer Klarheit – manchmal ist sie nur ein chemischer Höhenflug.
Schaffe Reflexionsrituale: Entscheidungs-Tagebuch, kurze Nachbesprechungen, Momente der Achtsamkeit.
Halte eine stabile Dopamin-Ökonomie: Schlaf, Bewegung und soziale Nähe sind die Basis ausgewogener Urteilsfähigkeit. Ungleichgewicht macht impulsiv (Yale 2020).
Die Sprache der Entscheidung
Wenn wir entscheiden, sprechen wir auch mit uns selbst.Inneres Sprechen ist nicht bloß Begleiter des Denkens, sondern ein Mechanismus, der den Konflikt zwischen Gefühl und Vernunft steuert. Die Worte, die wir wählen – ich muss, ich soll, ich wähle, ich will – bestimmen, welcher Teil des Gehirns das Kommando übernimmt: Zwangsworte aktivieren Stress, Wahlworte den präfrontalen Kortex, den Sitz bewusster Urteilsfähigkeit.
Entscheiden ist also nicht nur ein mentaler, sondern auch ein sprachlicher Akt.
Wenn wir unsere Worte ändern, ändern wir unsere Gehirnchemie – wir bewegen uns von Reaktion zu Richtung.Und in dem Moment, in dem Vernunft und Sprache gemeinsam sprechen, entsteht eine echte Entscheidung.
„Kluge Gehirne“ sind nicht jene, die nichts fühlen – sondern jene, die Gefühle verstehen.
Eine Entscheidung, die Emotion enthält, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern dafür, dass das Gehirn Logik und Erfahrung integriert.
Gefühle sind kein Rauschen, das die Vernunft stört – sie sind der biologische Kompass, der uns zeigt, was Bedeutung hat.
Das Gehirn entscheidet nie gegen uns, sondern so, wie es glaubt, uns sicher und ganz zu halten. Sein Ziel ist nicht Perfektion, sondern Anpassung und Sinn – zu überleben, zu lernen und mit dem verbunden zu bleiben, was dem Leben Wert gibt.
Fünf Gedanken zum Mitnehmen
Emotion steuert die meisten Entscheidungen. Das limbische System ist schneller als die Vernunft – lerne, seine Signale zu erkennen.
Dopamin motiviert – und verführt. Verwechsle Aufregung nicht mit Klarheit.
Reflexion verändert das Gehirn. Pausen, Schreiben und Achtsamkeit stärken Selbstregulation.
Sprache formt Urteil. Ersetze „Ich muss“ durch „Ich wähle“ – das verwandelt Stress in Handlungsfreiheit.
Ruhe und Empathie sind Strategie. Müdigkeit schwächt Moral, Mitgefühl macht Entscheidungen menschlich.



